Ich habe mir jetzt mehr als einmal überlegt, ob ich über dieses Thema überhaupt schreiben soll oder nicht. Wie ihr seht, habe ich mich dafür entschieden. Aus dem einfachen Grund, weil sich Dinge die man totschweigt nie ändern. Und ich daran glaube, dass Veränderung immer möglich ist. Schon im Philosophie-Unterricht am Gymnasium habe ich gelernt « Panta rhei » : Alles fliesst.
Das Interessante an korrupten Systemen ist, dass es nebst den offiziellen Regeln auch noch die « anderen Regeln » gibt. Jeder hier weiss, wenn dich der Gendarm an den Strassenrand pfeift, will er Geld sehen. Oder wenn ich kein Geld habe, warte ich vielleicht monatelang auf irgend ein offizielles Papier. Habe ich aber Beziehungen, kann das den Prozess enorm beschleunigen, sogar ohne dass ich Geld in die Hand nehme. Dafür ist man aber auf den Goodwill der Beziehungen angewiesen, die einen Anruf machen oder zwei, um den « Passe-partout » anzukündigen. Ärgert man sich offen über den Prozess, wird man mit Extra-Wartezeit bestraft. So kann man sich schnell mal wie beim Leiterchen-Spiel fühlen. « Zurück zum Anfang » heisst es immer wieder.
Zum Beispiel die Autonummer : Früher gab es die « Immatriculation provisoire ». Eine IP-Nummer klebt dann so lange auf dem Auto, bis das richtige Nummernschild da ist (das kann schon mal ein paar Monate dauern). Nun wurde vor Kurzem die IP abgeschafft. Unser Bus wurde aber noch eingeschrieben, als es die IP noch gab. Diese IP ist nun offiziell nicht mehr gültig, das Nummernschild ist aber seit über einem Monat noch nicht da. Jeder Polizist der also die IP-Nummer auf dem Bus sieht, wird uns anhalten, die Papiere anschauen. Feststellen, dass die Immatrikulation abgelaufen ist, da die IP auch nicht mehr verlängert wird und erklären, dass es keine IP mehr gibt. Obwohl natürlich das Auto offiziell angemeldet ist. Je nach Strasse kann man so mehrmals täglich bei jedem Polizist 10.- CHF liegen lassen. Bin ich nicht kooperativ mit seinem Ziel, findet er schon irgendwas, womit er mich ärgern kann. Wenn sich nichts findet, aus dem sich Geld ziehen lässt, dann wird man einfach noch etwas anderweitig befragt und aufgehalten (z.B. fragt man mich – Beifahrerin – nach meinem Pass. Ob sie dazu befugt sind, wüsste ich nicht mal), so hat er wenigstens die Genugtuung, einen geärgert zu haben, wenn man schon nicht zahlt. Gerade weil wir hier mit einem Minibus unterwegs sind, werden wir gerne angehalten, insbesondere interessiert sie, was geladen ist (es hat nur 3 Sitzplätze vorn). Oft werden mit solchen Fahrzeugen Transporte aller Art gemacht. Fehlen die richtigen Papiere (also die, die dieser Polizist gerade sehen will), zahlt man entsprechend. Einmal hatten wir zwei Kopiergeräte geladen (natürlich offiziell verzollt und mit den Papieren). Etliche Papiere haben sie durchgesehen, bis sie akzeptiert haben, dass alles korrekt ist, die Kopierer verzollt wurden, dass sie von uns importiert wurden und nicht etwa aus Togo kommen und wir weiterfahren können. Sie nehmen sich nicht etwa die Mühe, selbst zu lesen, können sogar das Papier in den Händen halten und behaupten, es steht nichts darauf. Das tun sie mit solch einem selbstverständlich arroganten Auftreten, dass man sich nicht mal traut, zu widersprechen. Auch das könnte in mehr Ärger enden. Lieber überlässt er dann den « Fall » noch einem Kollegen (also nachdem erkannt wurde, dass wohl das auf dem Papier steht, was da stehen muss), der dann alles noch mal durchsieht, um festzustellen, dass man schliesslich und endlich gefunden hat, was gefragt wurde. Das hätte man ja doch gleich zu Anfang sagen können. Da schluckt man viel, viel Ärger.
Nützliche Beziehungen müssen natürlich auch gepflegt werden. Deshalb sind hier « wichtige Personen » (Beamte aller Art, Politiker, Polizisten, Zöllner, usw.) auch sehr beliebt. Jeder möchte so jemanden kennen oder gar in der Familie haben. Und wenn man so jemanden schon kennt, möchte man natürlich auch davon profitieren können. Das zieht nach sich, dass diese Personen sich fast alles erlauben können. Von « unten » werden sie immer mit Samthandschuhen angefasst, auch wenn sie die Leute noch so mit ihren schmutzigen Schuhen treten. Man will sich so eine Beziehung halt nicht verscherzen. Dazu kommt, dass diese Personen nicht damit geizen, ihre Machtposition zur Schau zu stellen. Das hat zur Folge, dass eine strenge Hierarchie herrscht welche die ganze Gesellschaft durchzieht, Kinder eingeschlossen. Es gelten Alter, Zivilstand, sozialer Status, politischer Einfluss, Reichtum (ich könnte noch Hautfarbe anfügen, das ist jedoch sehr ambivalent und ein eigener Beitrag wert).
Natürlich kann man sich fragen, wieso man sich überhaupt an (offizielle) Regeln halten soll in einem korrupten System. Ich habe meistens die Möglichkeit, mich einfach frei zu kaufen. Dabei geht es immer um ein Abschätzen der Prioritäten. Etwa kann einen ein Strassenpolizist aufhalten mit allen möglichen Fragen und Papieren die er sehen will. Wenn ich es eilig habe (z.B. weil meine Fahrgäste sonst aussteigen), stecke ich ihm lieber etwas zu, und er lässt mich ohne weitere Fragen weiterfahren, selbst wenn der Rückspiegel fehlt und die Windschutzscheibe Risse hat. Das Geld lässt man nur in der Tasche stecken, wenn man sehr sicher ist, dass nichts zu finden ist, oder wenn man selbst oder der eigene Bruder eine sehr einflussreiche Person (Politiker, Leutnant o.ä.) ist. So reisen die meisten Militärangehörige usw. in Uniform. Kein Gendarm wird es wagen, ihn anzuhalten. Weshalb also soll sich der Einzelne an die Regeln halten, wenn diejenigen, die die Regeln schaffen oder kontrollieren sich selbst nicht an die Regeln halten ? Eher sucht man eine Möglichkeit, sich in eine Position zu begeben, die mehr Freiheiten erlaubt (viele gute Beziehungen, selbst zu den Mächtigen gehören…).
Das Wichtige ist, nicht nur die verschiedenen Regeln zu kennen, man muss sich natürlich auch entscheiden (sofern man die Wahl hat), an welche Regeln man sich halten will. Auf « offiziellem » Weg, darf kein einziges Komma fehlen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich auf einen Polizisten treffe, der Mal ein Auge zudrückt, ist wohl kleiner, als im Lotto zu gewinnen. Ist das kleinste Irgendwas nicht in Ordnung, so wählt man meistens die andern Regeln. Denn auf offiziellem Weg eine Busse bezahlen ist einerseits sehr viel teurer (statt 10.- kostet es dann vielleicht 100.-) und andererseits enorm zeitintensiv. Etwa, weil das Auto noch zur Inspektion auf den Posten mitgenommen wird (Wartezeit : mehrere Tage, kann ich die Busse nicht bezahlen, entsprechend länger). Natürlich wählt man da den einfacheren Weg. Soll der Polizist glücklich werden und sein Geld nehmen und ich kann weiterfahren. Wieviele Bussen der Staatskasse so entgehen, frage ich lieber nicht.Das Ganze verleitet natürlich auch dazu, es mit den Regeln allgemein « nicht so genau » zu nehmen. Spricht man die Leute hier auf solche Missstände an, folgt meist eine Antwort wie « Haben die Leute denn eine Wahl ? » Nehmen wir obiges Beispiel, und ich bin Taxi-Fahrer. Ich kann es mir schlicht nicht leisten mein Auto für ein paar Tage auf irgend einem Polizeiposten stehen zu lassen (um noch mehr mit Kosten verbundene Fehler zu finden). Noch weniger kann ich mir die offizielle Busse von 100.- leisten. Die 10.- bezahle ich dann locker, es gehört fix eingerechnet. Korruption hilft eben jedem der direkt Beteiligten. Deshalb funktioniert es nach dem Motto « Never change a running system » (verändere nie ein funktionierendes System) auch so gut. Deshalb ärgert sich jeder über den Polizisten, der ihm gerade 1000 CFA abgenommen hat, aber der Ärger ist nie so gross, dass man etwas ändern wollen würde.
Um noch festzuhalten : Es gibt auch diejenigen hier, die sich genau und gerne an die offiziellen Regeln halten. Aber jeder ist irgendwie Teil des aktuellen Systems, und kaum jemand hat nicht auch schon Mal auf die Korruption zurück gegriffen, wenn es eng wurde. Selbst wenn man es ungern tut, manchmal hat man eben wirklich nicht die Wahl. Oder redet sich dasein. Die Schlange beisst sich selbst in den Schwanz.
Aber Panta rhei. Alles fliesst. Nicht nur das Geld.
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